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Vor zehn Jahren ist die Strukturreform in Kraft getreten

Der Nationalrat der Meinung, die vor zehn Jahren in Kraft getretene Strukturreform BVG sei durch eine unabhängige Expertise zu evaluieren. Und: Zwei Differenzen der AHV-Revision wurden beigelegt.


Langjährigen Beobachtern sträuben sich die Nackenhaare, wenn sie an die Machenschaften bei der Ascoop, Swissfirst oder der Bernischen Lehrerversicherungskasse (BLVK) erinnert werden. Das sei hier erwähnt, weil der Nationalrat in der zurückliegenden Herbstsession das Postulat 21.3968 mit 128 zu 50 Stimmen angenommen hat. Es trägt den Titel «Zielerreichung der Strukturreform BVG evaluieren.» Eingereicht wurde es von der Sozialkommission des Nationalrats (SGK-N); der Bundesrat beantragte Ende August die Annahme des Postulats.


Das Postulat beziehungsweise die 2011 in Kraft gesetzte Strukturreform haben einen direkten Zusammenhang mit den genannten Skandalen.


Als Beispiel sei an Ascoop erinnert: Die Pensionskasse der öffentlichen Transportunternehmen geriet Anfang der Nuller Jahre wegen riskanter Investments in eine Unterdeckung von unter 80 Prozent. Kern des Problems war eine fatale Governance. Ascoop verlor viel Geld mit hochriskanten Investments. Der Skandal liegt darin, dass der Ascoop-Geschäftsführer in eben diesen Unternehmen im Verwaltungsrat sass. Unglaublich.


Pensionskassen fühlten sich betrogen



Zu erinnern sei auch an den «Fall Swissfirst», der das Fass zum Überlaufen brachte. CEO ist kein geringerer als der heutige SVP-Nationalrat Thomas Matter. Fünf Pensionskassen und zwei Versicherungen liessen sich von ihm überzeugen, ihre Swissfirst-Aktien der Swissfirst abzutreten. Kurz darauf gab der gewiefte Banker den Zusammenschluss der Bank am Bellevue bekannt, worauf die Swissfirst-Aktien um über 50 Prozent zulegten. Matter verdiente Millionen; die Pensionskassen sahen sich um Millionen geprellt. Matter musste unangenehme Fragen gefallen lassen und sich juristisch wehren.


Fragen gefallen lassen mussten sich auch die betroffenen Pensionskassen. Weshalb haben sie dem Banker ihre Aktien zugedient? Weshalb lassen sie sich von einem Aussenstehenden zum Verkauf der Aktien überreden? Ohne das Zudienen der Aktien wäre die Fusion womöglich nicht zustande gekommen. Und doch stellt sich die Frage: Ist es Aufgabe von Pensionskassen, sich in den Dienst verborgener Interessen zu stellen? «660 Milliarden – das (un)heimliche Reich der Pensionskassen-Manager schrieb der «Blick» am 9. August 2006.


Die drei Ziele der Strukturreform


Politiker und Parteien überboten sich darauf mit Reformvorschlägen. Schliesslich trat 2001 die so genannte Strukturreform in Kraft: Sie verfolgt drei Ziele.

- schärfere Vorschriften im Bereich Transparenz und Governance

- Kantonalisierung und Professionalisierung der Aufsicht, indem die Direktaufsicht des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) über Vorsorgeeinrichtrungen mit nationalem und internationalem Charakter an die Kantone übergeht. Gleichzeitig wird eine unabhängige Oberaufsichtskommission (OAK) geschaffen. Sie soll für eine einheitliche Aufsichtspraxis sorgen.

- Regelungen für Anlagestiftungen, indem sie erstmals gesetzlich erfasst werden.


Nun ist also der Nationalrat der Meinung, die vor zehn Jahren in Kraft getretene Strukturreform BVG sei durch eine unabhängige Expertise zu evaluieren. In der Ratsdebatte erklärte die grünliberale Melanie Mettler im Namen der Kommission, die OAK habe wiederholt darauf hingewiesen, dass die Aufsicht stark gefordert sei. Seit 2011 explodierte die Bilanzsumme von rund 600 auf über 1000 Milliarden Franken. Zudem findet ein Konzentrationsprozess statt. Demografische Entwicklung und tiefe Zinsen hätten die Rahmenbedingungen verschärft.


«Alles, was im Postulat verlangt wird, liegt bereits in den Dossiers begraben», meinte der Baselbieter Thomas de Courten, der das Postulat ablehnt. Er verweist auf all die Botschaften, Berichte und Unterlagen, die im Rahmen der Reformen der 1. und der 2. Säule verfasst wurden. Und er verweist auf die Botschaft vom 20. November 2019 zur Modernisierung der Aufsicht in der ersten Säule und Optimierung in der zweiten Säule. «Wir müssen es dort nur entsprechend herausfiltern und herausholen.»


AHV-Revision: Zwei Differenzen beigelegt


Kommen wir zur AHV-Revision: Der Ständerat beriet sie in der Frühjahrssession; der Nationalrat bereits in der darauffolgenden Sommersession. Es resultierten drei nennenswerte Differenzen, denen sich nun der Ständerat in der zurückliegenden Herbstsession angenommen hat


- der Ständerat wollte den Freibetrag nach Erreichen des Referenzalters auf 2000 Franken erhöhen; der Nationalrat will ihn analog des Bundesrats bei den heute gültigen 1400 Franken belassen und gleichzeitig die Wahlmöglichkeit schaffen, auf den Freibetrag gänzlich zu verzichten. Das ist interessant für Versicherte, die nicht auf eine maximale Vollrente kommen und damit ihre Rente aufpolieren können.

- der Ständerat wollte den Mehrwertsteuersatz um 0,3 Prozentpunkte; der Nationalrat um 0,4 Prozentpunkte erhöhen. Der Ständerat hat nun in der Differenzbereinigung entschieden, in beiden Punkten dem Nationalrat zu folgen.


Bestehende Differenz bei den Ausgleichsmassnahmen


Hingegen bei den Ausgleichsmassnahmen zur Kompensation des höheren Frauenrentenalters besteht zwischen den beiden Kammern nach wie vor eine Differenz. Der Bundesrat will Frauen mit tiefen bis mittleren Einkommen, die bis zum Referenzalter oder darüber hinaus arbeiten, eine höhere Altersrente gewähren.


Das Modell des Nationalrats, verabschiedet in der Juni-Session, sieht für die ersten sechs Jahrgänge der betroffenen Frauen grosszügigere Ausgleichsmassnahmen vor. Sie bestehen in geringeren Rentenkürzungen im Fall eines Vorbezugs und in einem Zuschlag für jene Frauen, die bis zum gesetzlichen Referenzalter erwerbstätig bleiben.


Der Ständerat erarbeitete ein Modell mit einem zuerst progressiven dann degressiven Verlauf für neun Jahrgänge. Das Rentenalter wird über vier Jahre in vier Schritten erhöht. Die ersten vier Jahrgänge erhalten einen kleinen Zuschlag auf die Rente. Der Zuschlag wächst für spätere Jahrgänge an und wird später wieder kleiner. Was kompliziert klingt, ist es auch. In der Wintersession ist der Nationalrat wieder am Ball.


Abstimmungen werden mit Emotionen gewonnen, nicht mit Fakten


Zig Berechnungen wurden angestellt, zig Modelle evaluiert. Insbesondere die Ständeräte überboten sich mit ausgeklügelten Modellen, bei denen kaum jemand den Durchblick hat. Ob nun die Ausgleichsmassnahmen jährlich 700, 600 oder 400 Millionen kosten, müsste eigentlich zum gegebenen Zeitpunkt keine Rolle spielen. Massgebend ist vielmehr, welche Variante an der Urne die grösste Erfolgschance hat. Vieles spricht dafür, dass es jene ist, die von einem SP-Bundesrat vertreten wird.


Wer glaubt, mit kompliexen und intransparenten Vorlagen liesse sich das Volk leichter überzeugen, hat aus der Geschichte nichts gelernt. Abstimmungen werden mit Emotionen gewonnen, nicht mit Fakten. Wie sonst lässt sich erklären, dass am 7. März 2010 über 70 Prozent von einer moderaten Senkung des Mindestumwandlungssatzes von 6,8 auf 6,4 Prozent nichts wissen wollten? So sei hier wiederholt an die 11. AHV-Revision erinnert, die exakt vor zehn Jahren bereits in der Schlussabstimmung im Ratssaal verworfen wurde. Wäre damals die SVP über den eigenen Schatten gesprungen und hätte die aus ihrer Sicht übertriebene soziale Abfederung für Frauen gutgeheissen, so hätten wir heute Frauenrentenalter 65. Die damalige Vorlage hätte den Souverän überzeugt, das sei hier bis zum Beweis des Gegenteils behauptet. Die Gender-Karte zog damals nicht wie heute.


Erschienen in Schweizer Personalvorsorge am 13. Oktober 2021








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