«Prävention löst das Problem nicht – sie verschiebt es nur»»
- viertesaeule
- 23. Sept.
- 5 Min. Lesezeit
HFR-Präsidentin Annamaria Müller über den Fachkräftemangel, Robotik, Prävention, schädliche Leistungen – und warum sie die Spezialisierung mit einem Blumenkohl vergleicht.

Der SVP-Politiker Urs Martin ist seit Mitte 2020 Gesundheitsdirektor im Kanton Thurgau. Bild: cch
Frau Müller, der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen ist eigentlich ein Segen.
Warum meinen Sie?
An der Mitgliederversammlung Gesundheitsnetz 2025 erklärten Sie, weder die Branche noch die Technologie noch die Prävention werde grundlegende Probleme des Gesundheitswesens lösen. Doch der Fachkräftemangel werde es richten.
Ein Segen? Das ist eine allzu steile Aussage. Das würde ich so nie behaupten. Wenn es in zwanzig Jahren nicht mehr genügend Leute gibt, um all die pflegebedürftigen und polymorbiden Menschen zu versorgen, gibt es einen Missmatch. Ich sage einfach, dass all die Diskussionen über Spitalschliessungen und Kosten durch den Fachkräftemangel gelöst werden.
Eben: Weder die Politik noch die Branche noch die Stimmbürger sind offenbar willens, diesem drohenden Missmatch zu begegnen und Massnahmen zu ergreifen. Schliesslich wird der Fachkräftemangel sie dazu zwingen.
Ja, diesbezüglich schon. Aber es gibt auch andere Korrektive: Robotik, Telemedizin, KI. Da stellt sich die Frage, wieviel die Technologie von dem auffangen kann, was jetzt Menschen machen, vor allem im Bereich der Pflege. Wie viele neue Herausforderungen werden durch die Technologisierung kreiert? Können wir das Versorgungslevel auf dem heutigen Niveau behalten? Ich behaupte Nein.
In asiatischen Ländern werden heute Roboter auf breiter Basis eingesetzt – und es funktioniert.
Es funktioniert teilweise. In Japan ist die Fachkräftekrise hausgemacht, weil sie niemanden ins Land lassen. Sie behelfen sich in der Pflege mit Robotern.
Eben.
Bei schwerer körperlicher Arbeit kann die Robotik unterstützend sein. Das ist durchaus sinnvoll. Und wenn es um die direkte Ansprache und um die menschliche Anteilnahme geht, können bei dementen Personen teilweise auch Roboter eingesetzt werden. Das funktioniert aber nicht bei allen pflegebedürftigen Menschen.
Immerhin.
Ja, Roboter könnten gewisse Arbeiten erledigen, damit das Pflegepersonal nicht ausbrennt und im Beruf bleibt. Einen Missmatch haben wir trotzdem. Es wird nicht schlimmer, wenn die Leute im Beruf bleiben – aber wenn sie aussteigen, dann wird es dramatisch.
Stimmt der Eindruck, dass die Entwicklung der Robotik in der Schweiz nur schleppend vorangeht? Nicht nur in der Pflege?
Es gibt bereits mehrere Roboter, die heute in der Chirurgie eingesetzt werden – zum Beispiel der Da Vinci in der Urologie. In der Pflege bin ich mir noch nicht sicher. Es gibt zwar einige Pilotprojekte, aber einen flächendeckenden Einsatz oder eine breite Nutzung sieht man derzeit noch nicht.
Korrigieren Sie mich: Der Da Vinci ist sehr wohl ein Hilfsmittel. Aber er ersetzt keine einzige Fachperson.
Er hilft insofern, als der Operateur nicht vor Ort sein muss. Er wird ferngesteuert. So können periphere Spitäler mit Hilfe von Robotern Operationen durchführen, was sie mit den eigenen Fachleuten nicht machen könnten.
In den USA mag das sinnvoll sein. Aber in der kleinräumigen Schweiz?
Das ist nur das eine. Es bedingt auch, dass vor Ort die Roboter vorhanden sind. Sie sind nicht gerade billig und müssen regelmässig auf den neusten Stand gebracht werden. Nicht zu vergessen das Cyber-Risiko. Die neuen Technologien schaffen Probleme, die man vorher nicht kannte.
Die Robotik wird demnach den Missmatch nicht ausräumen. Was ist denn die Lösung?
Wenn ich das wüsste, könnte ich mit dieser Erkenntnis viel Geld verdienen....
... eigentlich wissen wir schon, was zu tun wäre. Nur ist es politisch nicht mehrheitsfähig.
Es gibt nicht die eine Lösung. Es braucht Entwicklungen und Ansätze aus verschiedenen Richtungen, um Versorgungsformen und Verfahren zu finden, die mit weniger Personal auskommen. In vielen Bereichen des täglichen Lebens – etwa in der Landwirtschaft, Industrie aber auch im Dienstleistungssektor – wurden durch moderne Technologien bereits Strukturen geschaffen, in denen weniger Menschen sehr viel leisten können. Warum sollte das nicht auch im Gesundheitswesen möglich sein?
Weil das Gesundheitswesen total verpolitisiert und überreguliert ist.
Im Gesundheitswesen sind wir in vielen Bereichen stark im Rückstand. Technologische Lösungen allein reichen aber nicht aus. Wir müssen auch darauf achten, dass Fachpersonen für sinnvolle Tätigkeiten eingesetzt werden – also für das, was sie gelernt haben. Heute verbringen viele von ihnen einen grossen Teil ihrer Zeit mit Bürokratie statt mit ihrer eigentlichen Arbeit.
Was sagen Sie zur These, dass es nicht an medizinischem Personal mangelt?
Das spielt auf jeden Fall mit hinein. Ein beträchtlicher Teil der Leistungen im Gesundheitswesen ist unnötig oder sogar schädlich – man spricht von etwa 30 Prozent. Wie hoch der Anteil genau ist, wissen wir nicht. Das lässt sich kaum messen. Oft wird doppelt gearbeitet, Informationen werden nicht weitergegeben, es fehlt an Vertrauen – oder es werden Dinge getan, nur weil sie bezahlt werden. Wenn wir all das reduzieren und uns auf das konzentrieren, was wirklich notwendig ist, könnten wir bereits sehr viel erreichen – auch ohne zusätzliches Personal.
Sie sagen: «Wir könnten». Die Frage ist aber, ob wir es auch können?
Damit das funktioniert, müssten sehr viele Änderungen am System vorgenommen werden – so viele, dass ich bezweifle, dass wir das jemals vollständig umsetzen können. Aber was in unserer Macht steht, sollten wir tun: Wir müssen darauf achten, dass das Fachpersonal, das wir bereits haben, nicht nur an bestimmten Standorten konzentriert ist, sondern sowohl fachlich als auch geografisch möglichst gut verteilt wird. Dafür brauchen wir aber auch die Unterstützung von der Politik.
Generell wird auch die zunehmende Spezialisierung als Problem erachtet. Müsste hier das Korrektiv nicht von der Zulassungsbehörde kommen?
Die Zulassung ist grundsätzlich eines der wirksamsten Steuerungsinstrumente. Wir haben damit bereits unterschiedliche Erfahrungen gemacht – allerdings mit mässigem Erfolg. Damit dieses Instrument wirklich greift, braucht es jedoch eine fundierte Vorstellung davon, welche Fachkräfte wo benötigt werden – nicht nur im Moment, sondern mit Blick auf die nächsten fünf bis zehn Jahre. Zudem müssten diese Kriterien schweizweit einheitlich angewendet werden.
Das scheint illusorisch zu sein.
Ein weiteres wichtiges Steuerungselement sind Anreizsysteme, etwa über die Entschädigung. Das Problem besteht darin, dass sich die Medizin zunehmend in immer spezifischere Fachrichtungen aufteilt. Dadurch bilden wir immer mehr hochspezialisierte Fachpersonen aus, die dann wiederum nur in ihrem engen Bereich tätig sind – was eine weitere Spezialisierung nach sich zieht.
Mir kommt dabei das Bild eines Blumenkohls in den Sinn: Die Struktur verzweigt sich immer weiter, bis schliesslich nur noch feine Äste übrigbleiben und keine Fasern nachwachsen können. Irgendwann besteht die Gefahr, dass der Blumenkohl verdorrt. Einzelne Bereiche fallen weg, weil sich dort kein Nachwuchs mehr findet.
An der genannten Mitgliederversammlung Gesundheitsnetz 2025 sagten Sie: «Prävention löst das Problem nicht; sie verschiebt es nur.» Ist es nicht so, dass dank wirkungsvoller Prävention auf spätere, teure Eingriffe verzichtet werden kann?
Ich bin ketzerisch: Nehmen Sie die Werbekampagne von Philip Morris, die glorios gescheitert ist. Die Firma versuchte zu argumentieren, dass Raucher den Staat finanziell entlasten, weil sie früher sterben und dadurch keine Renten- oder Pflegekosten verursachen.
Das stimmt doch, oder?
Das ist ethisch nicht vertretbar. Ich bin nicht gegen Prävention. Die Leute sollen möglichst lange und möglichst gesund leben können. Aber: gestorben wird trotzdem. Je länger die Leute leben, umso mehr akkumulieren sie gesundheitliche Probleme. Nur sehr wenige Menschen sterben mit 90 bei bester Gesundheit. Auch präventiv gut versorgte Menschen benötigen irgendwann medizinische Betreuung – oft über Jahre hinweg. Die Kosten entstehen weiterhin, nur eben später und möglicherweise in anderer Form.
Annamaria Müller ist seit Anfang 2020 Verwaltungsratspräsidentin des Freiburger Spitals (HFR) und seit 2022 Präsidentin des Schweizer Forums für integrierte Versorgung (fmc). Von 2009 bis 2019 war sie Leiterin des Spitalamts der Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern. Davor war die Bernerin Generalsekretärin beim Ärztedachverband FMH.
Erschienen auf Medinside.ch am 26. August 2025

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