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Liebe Frau Amherd, bitte retten Sie das BVG

In der zurückliegenden Dezemberausgabe lautete der Titel an dieser Stelle: «Wird Alain Berset diese Reform glaubwürdig vertreten können?». Die Antwort erübrigt sich, wie wir seit dem 21. Juni 2023 wissen. Der Freiburger Sozialdemokrat wird definitiv nicht unglücklich darüber sein, dass es ihm erspart bleibt, für die vom Parlament geschmiedete BVG-Revision contre coeur kämpfen zu müssen.


Berset hat wiederholt betont, dass er von der vorliegenden BVG-Revision wenig bis nichts hält und er es sehr bedaure, dass das Sozialpartnermodell, das der Bundesrat telquel übernommen hat, nicht nur abgelehnt, sondern gar nicht erst ernsthaft in Erwägung gezogen hat.


Wenig überraschend haben die Medien den Steilpass von Alain Berset aufgenommen und munter damit angefangen, über die Nachfolge zu spekulieren. Das Sommerloch dürfte damit überwunden sein.


Wir wollen in diesen Spalten nicht gleich verfahren. Doch ein Gedanke sei dennoch erlaubt: Ist es zum Gelingen der BVG-Revision von Vorteil, wenn das Innendepartement in SP-Hand bleibt? Könnte Elisabeth Baume-Schneider, die nicht so recht ins Justizdepartement zu passen scheint, die BVG-Revision glaubwürdig vertreten können? Wohl kaum.


Cassis oder Amherd?


Die «NZZ am Sonntag» findet, nun müssten die Bürgerlichen die Verantwortung übernehmen. Dem können wir uns anschliessen. Im Vordergrund stehen Aussenminister Ignazio Cassis und Verteidigungsministerin Viola Amherd. Für den Tessiner FDP-Bundesrat spricht, dass er sich in der Grossen Kammer als Gesundheitspolitiker zu profilieren vermochte. Er präsidierte unter anderem den Dachverband Curafutura. Das heisst aber nicht, dass er mit der nötigen Glaubwürdigkeit gesegnet ist, in der «Arena» oder auf «Infrarouge» des Schweizers Fernsehen die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger dieses Landes von der Notwenigkeit der BVG-Revision zu überzeugen.


Die Mitte-Bundesrätin Viola Amherd hatte sich im Nationalrat nicht als Gesundheitspolitikerin hervorgetan. Das wäre kein Nachteil. Auch als Sicherheitspolitikerin war sie nicht aufgefallen und erhält als Vorsteherin des Militärdepartments dennoch gute Noten. Sie weiss, wie man Abstimmungen gewinnt. Liebe Frau Amherd, bitte wechseln Sie ins EDI.


Problem Teilzeit ungelöst


Kommen wir zum BVG beziehungsweise zur Motion 21.4338 «Ausweitung der Versicherungspflicht auf mehrere Teilzeitbeschäftigungen». Sie wurde am letzten Tag der Sommersession vom Ständerat diskussionslos abgelehnt. Das tat auch die vorberatende Kommission (SGK-S) mit neun zu null Stimmen bei drei Enthaltungen. Der Nationalrat stimmte ihr am 8. Dezember 2021 zu.


Es lohnt sich dennoch, diese Problematik hier in Erinnerung zu rufen. Die heutige Lösung ist unbefriedigend und wird auch bei einem Ja zur BVG-Revision unbefriedigend bleiben.


Rund 350'000 Personen haben in der Schweiz mehr als einen Arbeitgeber. Das sind laut Bundesamt für Statistik 7,8 Prozent der Erwerbstätigen. Rund drei Viertel dieser Erwerbstätigen sind laut einer Schätzung zumindest teilweise obligatorisch versichert. Das heisst, sie kommen bei mindestens einem ihrer Arbeitgeber auf ein Jahreseinkommen von 22'050 Franken.


Wer jedoch bei vier verschiedenen Arbeitgebern je 20'000 Franken erzielt, ist also trotz eines hohen Erwerbseinkommens von 80'000 Franken nicht obligatorisch BVG-versichert. Dies nur als Beispiel. In solchen Fällen besteht immerhin die Möglichkeit, sich freiwillig zu versichern, via Auffangeinrichtung oder bei einem der Arbeitgeber, sofern es das entsprechende Reglement erlaubt.


Der Sozialkommission des Nationalrats (SGK-N) war sich dieser Problematik schon längst bewusst. Sie hat noch während der Beratungen des BVG - konkret am 28. Oktober 2021 - die Motion 21.4338 eingereicht, um die Ausweitung der Versicherungspflicht auf mehrere Teilzeitbeschäftigungen prüfen zu lassen.


Kommissionssprecher Thomas de Courten (SVP, BL) machte dann in der Nationalratsdebatte vom 7. Dezember 2021 explizit auf diese Motion aufmerksam. Er meinte zudem, es wäre noch gut, «wenn wir den Ständerat darauf hinweisen würden, dass er sich mit der konkreten Umsetzung dieser Bestimmung nochmals befassen sollte.»


Dass der Ständerat davon nichts wissen will, wird niemand überraschen: die Umsetzung eines Versicherungsobligatoriums wäre «sehr kompliziert und würde ein komplexes Durchführungs- und Kontrollsystem erfordern», schreibt die ständerätliche Sozialkommission in ihren Erwägungen vom 18. April 2023.


Dem Problem der Mehrfachbeschäftigten ist demnach gemäss der Kommission mit der Senkung der Eintrittsschwelle sowie der relativen Ausgestaltung und Absenkung des Koordinationsabzugs eher beizukommen.


Mit der in der Frühjahrssession verabschiedeten BVG-Revision, gegen welche die Gewerkschaften das Referendum ergriffen haben, wird beides getan: Die Eintrittsschwelle sinkt von 22'050 auf 19'845 Franken, und der Koordinationsabzug beträgt statt 25'725 Franken nur noch 20 Prozent des versicherten Lohnes, maximal also 17'640 Franken.


«Nur» 70'000 neue Versicherte


Laut offiziellen Schätzungen würden damit 70'000 Personen neu und 30'000 Personen besser versichert als bisher. Wobei man wissen muss, dass die Nationalratskommission noch von anderen Zahlen ausgegangen war, nämlich von einer Eintrittsschwelle und einem Koordinationsabzug von je 12'548 Franken. Nicht 100'000, sondern 450'000 Frauen und Männer wären dann neu obligatorisch BVG-versichert worden.


Im Verlauf der zahlreichen BVG-Debatten der vergangenen Jahre war wiederholt zu hören, das Kapitaldeckungsverfahren stosse an seine Grenzen, wenn es darum geht, die 2. Säule neueren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen. Die unbefriedigende Lösung für Teilzeit- und Mehrfachbeschäftigte ist das beste Beispiel dafür.


Zur Profilierung des Absenders


Bundesangestellte können einem manchmal leidtun. Was da nicht alles an Vorstössen eingereicht wird. «Bei vielen Anfragen ist offensichtlich, dass sie nur der kurzfristigen Profilierung des Absenders dienen», kommentierte kürzlich die NZZ.


Zu profilieren versucht hat sich der Grünliberale Thomas Brunner - und zwar mit der Interpellation 23.3413: «Altersvorsorge stärken durch mehr Wahlfreiheit für Versicherte in der zweiten Säule». Acht sehr spezielle Fragen stellt er dem Bundesrat, was die Juristinnen im Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) dazu nötigt, in der Stellungnahme des Bundesrats das Funktionieren der 2. Säule zu erklären. Und sollte es jemandem entgangen sein: Nein, der Bundesrat hält nichts von einer Wahlfreiheit der Versicherten.


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Erschienen in «Schweizer Personalvorsorge» Mitte Juli 2023


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