«Die Mehrfachrolle der Kantone muss endlich geknackt werden»
- viertesaeule
- 11. Juli 2023
- 4 Min. Lesezeit
Andreas Greulich ist Direktor im Spital Uster. Im Interview spricht er über die Leistungsaufträge, verpasste Fusionen, veränderte Patientenströme, den Zoff mit der Concordia und weshalb die Geburtenabteilung so wichtig ist.
Herr Bitterli, Sie schreiben auf helveticcare.ch, Bundesrat Alain
Berset sei nicht alleine schuld an den steigenden
Krankenkassenprämien. Das ist nun wirklich keine neue
Erkenntnis.
Meine Erfahrung ist, dass sehr viele Leute die Zusammenhänge
nicht kennen. Sie wissen nicht, dass der grösste Teil 90 Prozent der
Kosten in den Kantonen entstehen. Wir haben einen Artikel übers
Gesundheitswesen geschrieben und mit dem Bild von Alain Berset
illustriert. Unglaublich, was da auf Social Media abging und wie
Herr Berset beleidigt wurde. Das hat mich dazu motiviert, gewisse
Dinge klarzustellen und zu erklären, dass Alain Berset nicht die
alleinige Schuld trifft.
Alain Berset hat den Krankenversicherern verboten, ihre
Prämienentwicklung zu kommunizieren. Damit erweckt er den
Eindruck, für die Prämienerhöhungen verantwortlich zu sein.
Ich habe nie behauptet, Brat Berset treffe überhaupt keine Schuld.
Die ganze Gesetzgebung, die Aufgaben, die beim Bund anfallen
und sich langfristig auswirken, sind im Einflussbereich des
Gesundheitsministers. Aber den Bundesrat für die kurzfristige
Prämienentwicklung verantwortlich zu machen, ist falsch.
Wie gesagt: Der grösste Teil90 Prozent der Kosten entstehen in
den Kantonen. Andere treffen deshalb eine „grössere“ Schuld.
Sie denken wohl an die Gesundheitsdirektoren.
Wie kann man die Infrastruktur in den Kantonen, insbesondere die
Spitäler, den Bedürfnissen der Bevölkerung anpassen? Das grosse
Thema heisst heute ambulant statt stationär. Wenn aber
medizinische Leistungen mehr und mehr ambulant durchgeführt
werden, wie kann es sein, dass wir weiterhin gleich viele Spitäler
haben? Das ist eine Aufgabe, die bei den Kantonen liegt: Sie sind
Eigentümer, Planer, Mitfinanzierer und erst noch Rekursinstanz. Es
muss uns endlich gelingen, die Mehrfachrolle der Kantone zu
knacken....
Moment: Seit 25 Jahren verfolge ich das Gesundheitswesen. Seit
25 Jahren gilt die Mehrfachrolle der Kantone als Problem
Nummer eins. Ist etwas passiert? Es wäre mir entgangen.
Sie haben recht. Es ist nichts passiert. Und ich kenne diese
Diskussionen auch seit jeher. Ich finde es bedenklich, dass in
einem Land, in dem die Gewaltenteilung nicht nur in der
Verfassung steht, sondern auch wirklich gelebt wird, dass
ausgerechnet in diesem Land die Gewaltenteilung im
Gesundheitswesen nicht vollumfänglich gelebt wird.
Der Gesundheitsökonom Willy Oggier sagte in einem Interview,
er habe die Illusion in die Politik verloren.
(seufzt) Persönlich muss ich leider zugeben, dass ich auch
desillusioniert bin. Man hat so viel gesehen und wird am Schluss
wiederholt enttäuscht. Aber es ist immer auch wichtig, dass eine
neue Generation auftritt, die nicht so desillusioniert ist, nur weil
sie schon zwanzigmal enttäuscht wurde. Die Jungen müssen die
Zukunft gestalten. Ich halte mich zurück. Ich möchte will mit
meiner persönlichen Desillusion nicht andere anstecken.
Man könnte auch sagen, nicht die Gesundheitsdirektoren seien
schuld, sondern das Volk. Wann immer eine Abstimmung über
Spitalschliessungen oder anderen Einsparungen anstehen, so
sagt das Volk Nein.
Das ist sicher auch ein Problem. Aber Stimmbürgerinnen und
Stimmbürger sind sich häufig nicht bewusst, was ihr Nein an der
Urne auf der Kostenseite bedeutet und dass ihnen später die
Rechnung präsentiert wird. Wir haben in den Spitälern der
Schweiz ein Investitionsvolumen von etwa 14 Milliarden Franken
ausstehend. Übermorgen wird sich das in den Prämien und
Steuern niederschlagen.
Wobei die Prämienzahlenden besser wegkommen als
Steuerzahlende, wenn sie an alten Strukturen festhalten und
Sparvorlagen ablehnen. Es trifft überproportional die
Steuerzahlenden.
Dasas ist ein Grundproblem: Wir müssen uns irgendwann aus
dieser Gefangenschaft befreien können. Bei all deniesen
politischen Diskussionen geht es stets nur um die Frage, ob
Prämien-zahler oder Steuerzahler profitieren.
A propos Willy Oggier: Er sprach von einem politischen
Trauerspiel, dass der Tardoc noch nicht genehmigt wurde.
Regisseur sei Alain Berset und mindestens drei seiner
Bundesratskollegen.
Ja, das ist sicher auch ein Trauerspiel. Aber auch hier trägt Alain
Berset nicht die alleinige Schuld. Wir haben zwei
Krankenversicherungsverbände, die sich in aller Lffentlichkeit
bekämpftbis aufs Blut bekämpfen und an ihren Standpunkten
festgehalten habenhalten. Auch die Spitäler sagten einmal dies
und dann wieder das.
Würden Sie es nicht begrüssen, wenn der Tardoc endlich
eingeführt würde?
Grundsätzlich - ja, man muss die „Aktualität“ besser abbilden.
Aber: Egal, welche Tarifverträge wir haben: Sie lösen diekeine
grundsätzlichen Probleme nicht. Die starren Strukturen der
Tarifpositionen führen zu Bestandeserhaltungen und nicht zu
Strukturanpassungen. Das ist der falsche Treiber: Statt
Entschädigungen anzupassen sollte man sich dem
Kundenbedürfnis ausrichten. Deshalb bin ich skeptisch, dass starre
Vertragssituationen gerade in der heutigen schnelllebigen
digitalen Zeit das Richtige sind.
Krankenkassen scheinen ein neues Betriebsfeld gefunden zu
haben. Gefühlt jeden zweiten Tag verkündet ein
Krankenversicherer ein neues App oder erteilt sonst
medizinische Ratschläge. Was sagen Sie als ehemaliger Sanitas-
Chef dazu?
Bei der Analyse der Ergebnisse der Krankenversicherer fürs Jahr
2022 haben wir keine Positionen gesehen, aus denen hervorgeht,
was all diese Bemühungen kosten. Wir haben keine Position
„Umsatz infolge App“ gefunden oder ähnliches. Dieser Aufwand
wird also in die Verwaltungskosten fliessen. Ich glaube nicht, dass
sich damit langfristig das Kundenvertrauen steigern lässt.
Entspricht es nicht dem politischen Willen, dass Krankenkassen
in die Prävention investieren?
Die Prävention ist ein spezifisches Feld der unzähligen App-
Entwicklungen. schon ein anderes Feld. Die Frage ist
vielmehrauch: Wer gibt am Schluss die Apps heraus? Brauchen wir
so viele Apps? Wenn jeder Versicherer für jede Diagnose ein
eigenes App entwickelt, kann das sicher nicht die Lösung sein. Am
Ende muss sich doch ein Standard durchsetzen.
Könnte man die Apps nicht als Wettbewerbsfaktor sehen?
Ich zweifle daran. Es könnte natürlich sein, dass die Jungen eher
auf solche Apps bauen. Aber ob das die grosse Differenzierung ist?
Wenn Sie schauen, was da alles bereits entwickelt wurde und auf
den Markt gekommen ist, dann gibt es thematisch kaum mehr
Differenziertungsmöglichkeiten. Vielleicht fehlt dem einen oder
anderen noch ein Yoga-App. Irgendwann muss sich das
konsolidieren. Ich sehe das nicht als Differenzierungsfaktor.
Dafür fehlt den Krankenversicherern die Innovationskraft in
ihrem Kerngeschäft. Sie halten an ihren herkömmlichen
Spitalversicherungen fest, obschon diese aus bekannten Gründen
kaum einen Mehrwert bieten. Was sagen Sie dazu?
Das ist ein ganz grosses Thema. Da muss sich die Industrie neu
erfinden. Der private Teil ist ja unternehmerisch der attraktivere
Teil. Im Segment, wo sie Gewinne machen dürfen, sollten sie auch
Innovationen entwickeln. Das ist eine der grossen
Herausforderungen. Ich bin überzeugt, dass das Thema Vorsorge
und private Krankenversicherung ineinander hineinwachsen wird.
Wie soll das gehen? Eine Rentenversicherung kombiniert mit
einer Halbprivatversicherung?
Eine Variante wäre: Man schliesst eine Lebensversicherung mit
periodischen Prämien oder Einmalprämie ab. Und mit 60 kann
man das Geld beziehen oder die Police ohne Gesundheitscheck in
eine private Spitalzusatzversicherung umwandeln.
Vor ziemlich genau zehn Jahren hat Helsana mit Primeo ein
Zusatzversicherungsprodukt für ambulante Leistungen lanciert.
Es ist nie flügge geworden.
Primeo ist an sich ein gutes Produkt. Das Problem liegt im
Tarifschutz des Krankenversicherungsgesetzes (KVG). Dieser
Tarifschutz kommt einem Verbot von Zusatzversicherungen im
ambulanten Teil gleich. Würde dieser Tarifschutz wegfallen, würde
die Verlagerung stationär zu ambulant schneller vonstatten gehen.
Das würde automatisch neue Versicherungsmodelle nach sich
ziehen.
Erschienen auf Medinside am 28. Juli 2023
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