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«Die Mehrfachrolle der Kantone muss endlich geknackt werden»

Andreas Greulich ist Direktor im Spital Uster. Im Interview spricht er über die Leistungsaufträge, verpasste Fusionen, veränderte Patientenströme, den Zoff mit der Concordia und weshalb die Geburtenabteilung so wichtig ist.



Herr Bitterli, Sie schreiben auf helveticcare.ch, Bundesrat Alain

Berset sei nicht alleine schuld an den steigenden

Krankenkassenprämien. Das ist nun wirklich keine neue

Erkenntnis.

Meine Erfahrung ist, dass sehr viele Leute die Zusammenhänge

nicht kennen. Sie wissen nicht, dass der grösste Teil 90 Prozent der

Kosten in den Kantonen entstehen. Wir haben einen Artikel übers

Gesundheitswesen geschrieben und mit dem Bild von Alain Berset

illustriert. Unglaublich, was da auf Social Media abging und wie

Herr Berset beleidigt wurde. Das hat mich dazu motiviert, gewisse

Dinge klarzustellen und zu erklären, dass Alain Berset nicht die

alleinige Schuld trifft.

Alain Berset hat den Krankenversicherern verboten, ihre

Prämienentwicklung zu kommunizieren. Damit erweckt er den

Eindruck, für die Prämienerhöhungen verantwortlich zu sein.

Ich habe nie behauptet, Brat Berset treffe überhaupt keine Schuld.

Die ganze Gesetzgebung, die Aufgaben, die beim Bund anfallen

und sich langfristig auswirken, sind im Einflussbereich des

Gesundheitsministers. Aber den Bundesrat für die kurzfristige

Prämienentwicklung verantwortlich zu machen, ist falsch.

Wie gesagt: Der grösste Teil90 Prozent der Kosten entstehen in

den Kantonen. Andere treffen deshalb eine „grössere“ Schuld.

Sie denken wohl an die Gesundheitsdirektoren.

Wie kann man die Infrastruktur in den Kantonen, insbesondere die

Spitäler, den Bedürfnissen der Bevölkerung anpassen? Das grosse

Thema heisst heute ambulant statt stationär. Wenn aber


medizinische Leistungen mehr und mehr ambulant durchgeführt

werden, wie kann es sein, dass wir weiterhin gleich viele Spitäler

haben? Das ist eine Aufgabe, die bei den Kantonen liegt: Sie sind

Eigentümer, Planer, Mitfinanzierer und erst noch Rekursinstanz. Es

muss uns endlich gelingen, die Mehrfachrolle der Kantone zu

knacken....

Moment: Seit 25 Jahren verfolge ich das Gesundheitswesen. Seit

25 Jahren gilt die Mehrfachrolle der Kantone als Problem

Nummer eins. Ist etwas passiert? Es wäre mir entgangen.

Sie haben recht. Es ist nichts passiert. Und ich kenne diese

Diskussionen auch seit jeher. Ich finde es bedenklich, dass in

einem Land, in dem die Gewaltenteilung nicht nur in der

Verfassung steht, sondern auch wirklich gelebt wird, dass

ausgerechnet in diesem Land die Gewaltenteilung im

Gesundheitswesen nicht vollumfänglich gelebt wird.

Der Gesundheitsökonom Willy Oggier sagte in einem Interview,

er habe die Illusion in die Politik verloren.

(seufzt) Persönlich muss ich leider zugeben, dass ich auch

desillusioniert bin. Man hat so viel gesehen und wird am Schluss

wiederholt enttäuscht. Aber es ist immer auch wichtig, dass eine

neue Generation auftritt, die nicht so desillusioniert ist, nur weil

sie schon zwanzigmal enttäuscht wurde. Die Jungen müssen die

Zukunft gestalten. Ich halte mich zurück. Ich möchte will mit

meiner persönlichen Desillusion nicht andere anstecken.


Man könnte auch sagen, nicht die Gesundheitsdirektoren seien

schuld, sondern das Volk. Wann immer eine Abstimmung über

Spitalschliessungen oder anderen Einsparungen anstehen, so

sagt das Volk Nein.

Das ist sicher auch ein Problem. Aber Stimmbürgerinnen und

Stimmbürger sind sich häufig nicht bewusst, was ihr Nein an der

Urne auf der Kostenseite bedeutet und dass ihnen später die

Rechnung präsentiert wird. Wir haben in den Spitälern der

Schweiz ein Investitionsvolumen von etwa 14 Milliarden Franken

ausstehend. Übermorgen wird sich das in den Prämien und

Steuern niederschlagen.

Wobei die Prämienzahlenden besser wegkommen als

Steuerzahlende, wenn sie an alten Strukturen festhalten und

Sparvorlagen ablehnen. Es trifft überproportional die

Steuerzahlenden.

Dasas ist ein Grundproblem: Wir müssen uns irgendwann aus

dieser Gefangenschaft befreien können. Bei all deniesen

politischen Diskussionen geht es stets nur um die Frage, ob

Prämien-zahler oder Steuerzahler profitieren.

A propos Willy Oggier: Er sprach von einem politischen

Trauerspiel, dass der Tardoc noch nicht genehmigt wurde.

Regisseur sei Alain Berset und mindestens drei seiner

Bundesratskollegen.

Ja, das ist sicher auch ein Trauerspiel. Aber auch hier trägt Alain

Berset nicht die alleinige Schuld. Wir haben zwei


Krankenversicherungsverbände, die sich in aller Lffentlichkeit

bekämpftbis aufs Blut bekämpfen und an ihren Standpunkten

festgehalten habenhalten. Auch die Spitäler sagten einmal dies

und dann wieder das.

Würden Sie es nicht begrüssen, wenn der Tardoc endlich

eingeführt würde?

Grundsätzlich - ja, man muss die „Aktualität“ besser abbilden.

Aber: Egal, welche Tarifverträge wir haben: Sie lösen diekeine

grundsätzlichen Probleme nicht. Die starren Strukturen der

Tarifpositionen führen zu Bestandeserhaltungen und nicht zu

Strukturanpassungen. Das ist der falsche Treiber: Statt

Entschädigungen anzupassen sollte man sich dem

Kundenbedürfnis ausrichten. Deshalb bin ich skeptisch, dass starre

Vertragssituationen gerade in der heutigen schnelllebigen

digitalen Zeit das Richtige sind.

Krankenkassen scheinen ein neues Betriebsfeld gefunden zu

haben. Gefühlt jeden zweiten Tag verkündet ein

Krankenversicherer ein neues App oder erteilt sonst

medizinische Ratschläge. Was sagen Sie als ehemaliger Sanitas-

Chef dazu?

Bei der Analyse der Ergebnisse der Krankenversicherer fürs Jahr

2022 haben wir keine Positionen gesehen, aus denen hervorgeht,

was all diese Bemühungen kosten. Wir haben keine Position

„Umsatz infolge App“ gefunden oder ähnliches. Dieser Aufwand

wird also in die Verwaltungskosten fliessen. Ich glaube nicht, dass

sich damit langfristig das Kundenvertrauen steigern lässt.


Entspricht es nicht dem politischen Willen, dass Krankenkassen

in die Prävention investieren?

Die Prävention ist ein spezifisches Feld der unzähligen App-

Entwicklungen. schon ein anderes Feld. Die Frage ist

vielmehrauch: Wer gibt am Schluss die Apps heraus? Brauchen wir

so viele Apps? Wenn jeder Versicherer für jede Diagnose ein

eigenes App entwickelt, kann das sicher nicht die Lösung sein. Am

Ende muss sich doch ein Standard durchsetzen.

Könnte man die Apps nicht als Wettbewerbsfaktor sehen?

Ich zweifle daran. Es könnte natürlich sein, dass die Jungen eher

auf solche Apps bauen. Aber ob das die grosse Differenzierung ist?

Wenn Sie schauen, was da alles bereits entwickelt wurde und auf

den Markt gekommen ist, dann gibt es thematisch kaum mehr

Differenziertungsmöglichkeiten. Vielleicht fehlt dem einen oder

anderen noch ein Yoga-App. Irgendwann muss sich das

konsolidieren. Ich sehe das nicht als Differenzierungsfaktor.

Dafür fehlt den Krankenversicherern die Innovationskraft in

ihrem Kerngeschäft. Sie halten an ihren herkömmlichen

Spitalversicherungen fest, obschon diese aus bekannten Gründen

kaum einen Mehrwert bieten. Was sagen Sie dazu?

Das ist ein ganz grosses Thema. Da muss sich die Industrie neu

erfinden. Der private Teil ist ja unternehmerisch der attraktivere

Teil. Im Segment, wo sie Gewinne machen dürfen, sollten sie auch

Innovationen entwickeln. Das ist eine der grossen

Herausforderungen. Ich bin überzeugt, dass das Thema Vorsorge

und private Krankenversicherung ineinander hineinwachsen wird.


Wie soll das gehen? Eine Rentenversicherung kombiniert mit

einer Halbprivatversicherung?

Eine Variante wäre: Man schliesst eine Lebensversicherung mit

periodischen Prämien oder Einmalprämie ab. Und mit 60 kann

man das Geld beziehen oder die Police ohne Gesundheitscheck in

eine private Spitalzusatzversicherung umwandeln.

Vor ziemlich genau zehn Jahren hat Helsana mit Primeo ein

Zusatzversicherungsprodukt für ambulante Leistungen lanciert.

Es ist nie flügge geworden.

Primeo ist an sich ein gutes Produkt. Das Problem liegt im

Tarifschutz des Krankenversicherungsgesetzes (KVG). Dieser

Tarifschutz kommt einem Verbot von Zusatzversicherungen im

ambulanten Teil gleich. Würde dieser Tarifschutz wegfallen, würde

die Verlagerung stationär zu ambulant schneller vonstatten gehen.

Das würde automatisch neue Versicherungsmodelle nach sich

ziehen.


Erschienen auf Medinside am 28. Juli 2023

 
 
 

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